Freitag, 13. November 2009

Dialektik des Terrors: durch lebenserhaltende Maßnahmen den Feind töten!

In der US-Amerikanischen Zeitung "Foreign Policy" stellt der Politikwissenschaftler Gustavo de las Casas sein Konzept vor, wie man Al-Qaida am besten bekämpfe: indem man sie am Leben erhält!
Die Welt wäre weise, wenn sie Al-Qaida am Leben halten würde, paradoxerweise aus Gründen der Sicherheit. Man mag es mögen oder nicht, aber eine ramponierte Al-Qaida intakt zu halten ist die größte Hoffnung, die die Welt haben kann, um die islamistischen Fanatiker in ein einziges soziales Netzwerk zu bringen - wo man sie am besten aufspüren, verfolgen und im Zaum halten kann. Die Alternative, die terroristische Gruppe zu zerstören, würde Al-Qaida in tausende von Zellen zersplittern, und diese wären wesentlich schwieriger zu verfolgen und unmöglich auszumerzen. Es ist das Dilemma des Gegen-Terrorismus, und die einzige echte Wahl ist die unangenehmste: Al-Qaida muss leben.
Die Gruppe ist getrieben von einer hohen Mitarbeiterfluktuation, ständig unter dem Druck, Mitglieder zu ersetzen, die durch erfolgreiche westliche Gegen-Operationen oder  erfolgreiche Selbstmordattentate verloren wurden. Al-Qaida Manager auf der mittleren Ebene sind ausschlaggebend, um diese Personal-Lücke zu füllen. Diese zentralen Mitglieder haben mehr Verbindungen als ihre abgeschiedene Führung oder die frischen Rekruten, und bilden eine Brücke zwischen beiden Gruppen. Zur selben Zeit sind sie aufgrund ihrer größeren Offenheit [exposure] einfacher zur Strecke zu bringen. Hierin liegt die Gefahr. Bedauerlicherweise werden mit dem Auslöschen der mittleren Schicht des Managements auch alle Hoffnungen ausgelöscht, terroristische Attacken aufzuhalten.
Wenn nun das "mittlere Management" die Brücke zwischen Führungsfiguren wie Osama Bin Laden und neuen Zuläufern bildet, dann würde man Al-Qaida effektiv schwächen, indem man dieses mittlere Management ausschaltet. Nicht, wenn es nach de las Casas geht. Der behauptet genau das Gegenteil:
Es ist verlockend ein Organisations-Diagramm von Al-.Qaida aufzuzeichnen und zu denken, wenn die wichtigen Knotenpunkte identifiziert und zerstört werden könnten, dass dann der Rest des Netzwerks folgen würde. Aber wenn Al-Qaida ausgeschaltet und sein mittleres Management dezimiert ist, dann kreisen eifrige Fanatiker rund um den Globus nicht mehr um eine zentrale Basis. Ihre Alternative? Ihr eigenes No-Name Netzwerk zu gründen und sich mit anderen Al-Qaida Überlebenden zusammen zu schließen. Al-Qaida zu töten wird wenig dazu beitragen, islamistischen Terror zu reduzieren. Es würde die Welt des Terrorismus nur chaotischer machen.  
Die These, dass versprengte und voneinander isolierte Terroristen viel gefährlicher seien als straff organisierte, stellt alles auf den Kopf, was man bislang aus der Welt der Anti-Terror-Strategien kannte. Offiziell konnte Al-Qaida doch nur Anschläge wie den 11.September durchführen, weil sie so straff organisiert sei. Weil sich Dutzende von Kämpfern konspirativ koordinieren konnten. Weil es auf der Welt verstreute, aber dennoch gemeinsam operierende Zellen gab, die durch internationale Finanztransfers am Leben gehalten wurden.

Dass, was Al-Qaida doch angeblich von hunderten anderen Terror-Gruppen unterscheidet, war doch die nach dem 11.September aller Welt eingehämmerte Behauptung, dass nur Al-Qaida zu solchen Anschlägen fähig sei. Wenn nun - entgegen dem in Foreign Policy geäußerten Wunsch - das "mittlere Management" ausgeschaltet werden würde und es sich dann dadurch bei dem Phänomen Al-Qaida nur noch um versprengte Desperados handeln würde, hätte Al-Qaida damit die behauptete Exklusivität verloren. Verlustig gegangen wäre damit aber auch der größte Angstmacher, mit dem Kriege und zunehmende Überwachung in Zeiten größerer sozialer Spannungen gerechtfertigt werden. Vielleicht soll Al-Qaida diese für die herrschende Elite nützliche Funktion nicht verlieren?

Die in Foreign Policy gelieferte Begründung kann jedenfalls nicht überzeugen. Dort wird auf den Fall "Aryian Nations" (AN) verwiesen, einer rassistischen, rechtsextremen Organisation aus den USA. In den 1970er Jahren gegründet, wurde sie 1999 vom FBI als terrorverdächtig eingestuft. Im Jahr 2000 verlor die AN dann durch einen Gerichtsbeschluss ihr Hauptquartier in Hayden Lake. Die AN zersplitterte sich daraufhin in drei Gruppen. Und diese Zersplitterung mache sie schwerer zu überwachen. "Mit dem Verlust ihres Geländes fallen sie durchs Raster", heißt es bei de las Caras. Doch das Argument hat einen Haken: wenn eine bis dato in der Öffentlichkeit und Legalität agierende Gruppe sich zunehmend konspirativ verhält und daher Sicherheitsbehörden vor neue Herausforderungen stellt, ist das etwas völlig anderes, als eine Gruppe wie Al-Qaida, die sich schon in der Illegalität befindet und angeblich über die Kapazität verfügt, aus der Klandestinität heraus Anschläge wie den 11.September durchführen zu können. Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen.
Die Alternative zur Zerstörung Al-Qaidas ist es, sie schwach zu halten - aber am Leben. Der Westen müsste Abstand davon nehmen, die zentralen Teile anzugreifen, und sie stattdessen beobachten und verfolgen. Al-Qaida würde weiterhin islamistische Militante in ihr gebündeltes Netzwerk anziehen, wo der Kampf gegen Terrorismus zumindest kontrollierbar [manageable] ist.
Angenommen, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten lernen im Laufe der Zeit mehr über das Netzwerk, Al-Qaida Rekruten könnten während ihres Trainings und anschließenden Einsatzes beschattet werden. Neue Al-Qaida Agenten könnten dann neutralisiert werden, sobald sie sich vom Netzwerk wegbewegen. Diese Zeitwahl verhindert die Zerstreuung der oberen Ränge Al-Qaidas, während dennoch die direkte Bedrohung der Sicherheit eliminiert wird.
"Angenommen" sagt in diesem Zusammenhang alles aus. Angenommen, man lernt über die Zeit nicht mehr über Al-Qaida dazu, dann erweist sich das Nicht-Einschreiten schon fast als Unterstützung. Doch auch ohne Eingehen auf de las Casas Vorschlag dürfte die USA und ihre Verbündeten bereits über ausgezeichnete Kenntnisse aus dem Innenleben Al-Qaidas verfügen, wie ich bereits hier, hier, hier und auch hier dargestellt habe.
Unterdessen müssen Al-Qaidas mittlere Manager weiterleben, als eine gefährdete Spezies. Das bedeutet nicht, dass sie ihren Job gut machen können sollten. Anschläge durch Predator-Drohnen sollten sich auf kompetente Bosse konzentrieren, und ihre unbeholfenen Brüder verschonen. Die ersteren sind vielleicht vorsichtiger und schwerer zu treffen, aber solche selektiven Attacken werden Al-Qaida mit einer schwerfälligen, ineffektiven Mittelsektion von Anführern zurücklassen, denen es vielleicht an Verstand mangelt, schlagkräftige Operationen durchzuführen.
Sich auf die kompetenten Bosse zu konzentrieren, scheint ja ganz vernünftig. Doch im nächsten Absatz heißt es dann:
Die größte Lektion für die gegenwärtige Gegen-Terror Politik ist vielleicht, dass die Jagd auf Al-Qaidas oberste Führer keine Besessenheit [obsession] sein sollte. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind sie solch isolierte Knoten, dass ihre Verfolgung kostspielig ist und nur einen begrenzten Nutzen einbringt. Fakt ist, wenn die Argumentation stand hält, dann ist Bin Laden lebendig nützlicher als tot. Schließlich üben seine aufpeitschenden Reden einen gewissen Reiz auf potentielle Al-Qaida-Rekruten aus.
Interessanterweise zählt de las Casas somit Bin Laden nicht zu den kompetenten Al-Qaida Bossen. Hiermit bin ich d'accord, auch mit der Behauptung, dass Bin Laden lebend nützlicher ist als tot. Allerdings fragt sich: Nützlicher für wen? Mit der Antwort dürfte es de las Casas schwer haben. Schließlich scheint er selbst noch kaum in der Lage zu sein, zu unterschieden, was Al-Qaida und was dessen Gegnern nutzt. Ob Bin Laden deswegen, sozusagen in einer Art dialektischem Geistesblitz, seit Jahren kein verifizierbares Lebenszeichen mehr von sich gegeben hat, weil er ebenso wie de las Casas annimmt, dass er den USA lebendig nützlicher ist als tot? Oder macht sich Bin Laden damit vor seinen Anhängern nicht auf Dauer unglaubwürdig, wenn er nicht mal in der Lage ist, einen Beweis für seine Lebendigkeit zu erbringen? Er soll für 9/11 verantwortlich sein, aber bekommt nicht einmal das auf die Kette? Und wie glaubwürdig machen sich Anti-Terror-Institute, wenn sie bei jedem Graubart, der irgendwo in einem "Al-Qaida"-Video auftaucht, lauthals 'Bin Laden' rufen?

De las Casas These findet mancherorts Verständnis, aber nicht überall. So fragt man auf der Seite der 'New York Times':
Wann soll denn dann der Gnadenstoß gegen Al-Qaida endlich kommen? Al-Qaida "kann der Todesstoß versetzt werden, wenn der islamische Fundamentalismus seinen Schwung verliert, z.B. durch ein israelisch-palästinensisches Friedensabkommen", schreibt de las Casas. 
A long time off, no? (Quelle)

1 Kommentar:

  1. Im Prinzip ist de las Casas Artikel ein Einblick in die Perspektive herrschender Eliten. Wenn auch nicht wirklich überraschend. Die Unterwanderung von Extremistengruppen ist das gängige Vorgehen der Nachrichtendienste. Soweit ich es bisher verfolgen konnte, wurden alle (!) bekannten Terror- und Extremistenorganisationen von irgendeinem Geheimdienst infiltriert. Warum also nicht auch Al Qaida? (So man denn annimmt, dass dieses Konstrukt überhaupt existiert.)
    Die Argumentation ist im Übrigen die identische mit der die Verfassungsschützer nicht aus der NPD abgezogen werden bzw. die NPD nicht verboten werden soll. Eine Organisation ließe sich schließlich einfacher überwachen als Kleingruppen.
    Und wenn es dann zwischendurch mal Opfer gibt, weil man den ein oder anderen kleinen Anschlag durchgehen lassen muss, um nicht als Agent/Informant aufzufliegen, dann ist das eben für die Größere Sache gerechtfertigt.

    In Deutschland wird gerade die Straffreiheit für "szentypisches" Verhalten von verdeckten Ermittlern vorbereitet.
    http://www.freitag.de/politik/0939-innenminister-verfassungsschutz-ueberwachung

    In den USA gibt es diese Straffreiheit für jegliches Verhalten schon lange.

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